
Das Universitätshauptgebäude wird 1908, zur 350-Jahr-Feier der Universität, neu errichtet. Im Zuge der Neuerrichtung und zur Feier des Jubiläums wird das Gebäude mit Gemälden ausgestaltet; u.a. mit Ferdinand Hodlers großformatigen Wandbild: „Auszug der Jenenser Studenten 1813 in den Befreiungskrieg“.
Anfang Oktober 1914 kommt es jedoch zu einem Konflikt um Hodler. Stein des Anstoßes ist, dass Hodler eine Protestnote gegen die deutsche Kriegsführung in Frankreich und Belgien unterzeichnete, die die Zerstörung der Bibliothek in Leuven und der Kathedrale von Reims verurteilte. Diese Unterschrift ruft heftige, vielfach in Form von offenen Briefen in Zeitungen kundgetane Anfeindungen hervor: denn es sei Hodler dem deutschen Volk in den Rücken gefallen dadurch, dass er eine öffentliche Protestnote unterzeichnete, die die deutsche Kriegsführung als „barbarisch“ verurteilte; und dies ging mit dem Selbstverständnis und der Deutung des Krieges als gerade nicht unmoralisch, sondern ganz im Gegenteil als erhebend und von sittlichen Wert ganz und gar nicht zusammen.
Hodler gilt von nun an als „Deutschfeind“, und von vielerlei Seiten wird nachträglich bezweifelt, warum man überhaupt ein solch erhebendes nationales Ereignis von einem Schweizer hätte malen lassen, der es (so die v.a. unter den Gelehrten verbreitete Auffassung: qua Nationalität) weder recht zu empfinden noch auszudrücken wisse; und man glaubt nun, auch schon in der Farbgebung, in der verkrümmten, verrenkten Haltung der Soldaten nur „Undeutsches“ erkennen zu können.

Kurz nachdem die Affäre ausgebrochen war, schritt Ernst Haeckel zur Tat, der berühmte Jenaer Zoologe, dessen 100. Todestag u.a. in Jena 2019 gefeiert wurde. Haeckel diktiert einen offenen Brief, gerichtet an Hodler im „Jenaer Volksblatt“, der in vielen deutschen Zeitungsblättern nachgedruckt wird, verbunden mit dem Aufruf, das Bild meistbietend zu versteigern und den Erlös dem Roten Kreuz zu spenden. Es finden sich tatsächlich Interessenten, die bis zu 50.000 Mark zu zahlen bereit sind. Doch der Senat der Universität entscheidet sich aus strategischen Gründen gegen einen Verkauf: Dieser würde, insbesondere im Ausland und aufgrund der Bekanntheit Hodlers nicht nur in den Künstlerkreisen, für noch mehr Aufsehen sorgen und die Stadt, aber auch die „Deutschen“ insgesamt in ein schlechtes Licht rücken. So wird argumentiert, das Bild könne als Privatbesitz der Universität nicht versteigert werden und beschlossen, es vorerst in „Schutzhaft“ zu nehmen, d.h. es mit einem Bretterverschlag zu verdecken. An diesem Bretterverschlag bringt in der Folge der Leiter des geographischen Instituts, Professor v. Zahn, Kriegsschauplatz und Verlaufskarten und Feldpostbriefe „unserer Kommilitonen“ an und hält vor diesen seine Vorlesungen.
Hodler nimmt in einem Telegramm an Eucken zu seiner Unterschrift und der Affäre Stellung und schreibt, er habe nicht gegen Deutschland, sondern gegen die Zerstörung von Kunstwerken protestiert; sein Protest sei daher nicht politisch, sondern kulturell motiviert. Sein Haltung ist aber auch als Künstler politisch, wie an Kommentaren zum „Fall“ deutlich wird, die er gegenüber dem Freund und Unterstützer Eberhard Grisebach während eines Treffens 1915 in der Schweiz äußert: denn wer Kunstwerke zerstöre, der trenne auch die Völker.
Literatur
Anna Bálint, „Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg von 1813“. Ferdinand Hodlers Jenaer Historiengemälde. Auftragsgeschichte, Werkgenese, Nachleben, Göttingen 1997.
Matthias Steinbach, Der Fall Hodler. Krieg um ein Gemälde 1914–1919, Berlin 2014.
Bildnachweis
Bild
- Titel: Ferdinand Hodler: Aufbruch der Jenenser Studenten in den Freiheitskrieg 1813
- Autor: James Steakley
- Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ferdinand_Hodler_001%27.jpg
- bearbeitet von SB