
Bis heute beherrscht das Bild einer alle Schichten der Bevölkerung umgreifenden Kriegsbegeisterung in den Augusttagen 1914 die kollektive Erinnerung. Dieses Bild vermag zwar der Vielfalt der jeweiligen Stimmungslagen und den Unterschieden zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung nicht gerecht zu werden. Es wurde aber seinerzeit durch eine Vielzahl von Vorträgen, Publikationen, Artikeln, Theaterstücken und Poemen erzeugt und gestützt. Sie schildern eine alle Standesgrenzen überwindende Einheit und den Zusammenhalt aller Deutschen in der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels.
Auch bedeutende zeitgenössische Intellektuelle, insbesondere auch Philosophen, beteiligen sich an diesem Diskurs. Sie sehen sich selbst als „geistige Führer“ der Nation. Für sie ist es eine Gelegenheit, die von ihnen beklagte Trennung zwischen dem „Geist“ und dem öffentlichen Leben zu überwinden. Indem sie die Frage nach dem Sinn des Krieges beantworten, können sie auch die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Wissenschaft unter Beweis stellen.
Während der Zeit der Weimarer Republik versuchen verschiedene Parteien den „Geist von 1914“ für sich zu vereinnahmen. Für demokratische Kräfte steht er für eine nationale Einheit, die durch die Rechtsgleichheit der Republik verwirklicht wird. Konservative sehen darin die gemeinsame Sammlung der Nation hinter der Monarchie und Kaiser Wilhelm II. Für Autoren der Rechten stehen die „Ideen von 1914“ für einen nationalen Aufbruch gegen die Französische Revolution und die mit ihr verbundene Vorstellung eines gesellschaftlichen Fortschritts. Sie sehen darin den Beginn des Untergangs von Liberalismus und Individualismus und den Aufschein eines neuen Zeitalters, in dem sich der Mensch wieder als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen lernt.

Auch die NSDAP wird sich später auf den „Geist von 1914“ beziehen. So schreibt der „Völkische Beobachter“ am 1. Februar 1933 zu den Fackelmärschen der SA und den begeisterten Massen vor der Reichskanzlei anlässlich Hitlers Ernennung zum Reichskanzler: „Die Erinnerung schweift in die erhebenden Augusttage von 1914 zurück. Damals wie heute die lodernden Zeichen der Volkserhebung. Damals, wie heute: der Bann gebrochen, das Volk steht auf.“
Literatur
Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000.
Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel 1963.
Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.
Bildnachweis
Hintergrundbild Anhang
- Titel: ehemaliger Thüringer Landtag, heute: Hochschule für Musik Franz-Liszt Weimar
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Deckblatt, Hintergrundbild und Bild 1
- Titel: Kaiser Wilhelm II. in Armeeuniform um 1915
- Autor: Gummerus
- bearbeitet von SB
Bild 2
- Titel: Der Arbeitsmann gibt Herz und Hand wenn in Gefahr das Vaterland – Ich kenne keine Parteien mehr.
- Autor: Friedrich Kaskeline
- Quelle: Historische Bildpostkarten. Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht, Universität Osnabrück, os_ub_0010844,
- https://bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/frontend/index.php/Detail/objects/os_ub_0010844