
Eberhard Grisebach studiert bei Rudolf Eucken in Jena und habilitiert sich dort im Jahr 1913. Er übernimmt 1912 die geschäftsführende Leitung des Kunstvereins und kann in dieser Funktion verschiedene moderne und avantgardistische Künstler für Jena gewinnen.
Schon während des Weltkriegs kündigen sich Konflikte mit den konservativen Ordinarien an der Fakultät an: So wirbt er für Verständigung und rät seinem Lehrer Eucken von einem Engagement in der Vaterlandspartei ab. Später setzt er sich gemeinsam mit Julius Schaxel für Hochschulreformen und für die Verbesserung der Lage der Privatdozenten ein. Auch hat er den Vorsitz der philosophischen Gesellschaft in Jena inne, die ein bewusstes Gegengewicht zu der von Bauch und Wundt gegründeten „Deutschen philosophischen Gesellschaft“ bilden soll. Als er nach der Ermordung Walther Rathenaus im Juni 1922 u.a. mit Karl Korsch und Julius Schaxel zu einer „Akademischen Kundgebung für die Verfassung“ aufruft, wird er dafür von seinen Kollegen Bruno Bauch und Max Wundt offen angefeindet. Diese widersetzen sich auch seiner Berufung zum außerordentlichen Professor durch den Volksbildungsminister Max Greil; beide versenden Rundschreiben an verschiedene Universitäten in der gesamten Republik, in denen sie behaupten, Grisebach verdanke seine Berufung in erster Linie seinen Beziehungen zu Greil.
Diese hochschulpolitischen Konflikte sind auch mit einem philosophisch-inhaltlichen Dissens verknüpft. Der von Bauch und Wundt erhobenen Forderung nach einer Wiederherstellung nationaler Größe durch die Besinnung auf die eigene Kultur und starke Führerpersönlichkeiten steht Grisebach Zeit seines Lebens skeptisch gegenüber.
Wer den Verfall alter kultureller Größe beklagt und deren Wiederherstellung fordert, übersieht nach Grisebach, dass die Berufung auf erreichte Kulturleistungen die Einmaligkeit gegenwärtiger Situationen und die hier auftretenden Ansprüche und Konflikte verfehlen muss. „In der Problemlage der Gegenwart ist ja die Wissenschaft gar nicht zuständig, auch nicht irgendein Kultursystem, sondern alle mitgebrachte Wissenschaft und Systematik werden gerade in dem Konfliktsfall in Frage gestellt, weil uns ein anderer Mensch zufällig begegnet, der sich unserem Verständnis und der Besitzergreifung widersetzt.“ Die konkrete Erfahrung von Widerständigkeit und Konflikt bedeutet daher für Grisebach auch das Ende bisher bewährter Gesetze und Deutungsmuster. Ihre Neugestaltungen, die auf diese Infragestellung reagieren, entfalten ihre Wirksamkeit nicht durch Gefolgschaft, sondern indem sie angegriffen und kritisiert werden. Auch neu entwickelte Kulturleistungen schaffen daher keine Einheit – vielmehr sind sie Medien der Auseinandersetzung.
Deshalb führt auch der Wunsch nach Führung in die Irre. Ein solcher Wunsch überträgt ein begrenztes militärisches Bild auf das Ganze unserer historisch-gesellschaftlichen Welt. Die Wirklichkeit gründet sich jedoch nicht auf einzelne Prinzipien oder kontinuierliche Linien. Es gibt hier keine „Führer“, die Ziele weisen oder Werte angeben könnten, nach denen sich die Wirklichkeit zu richten hat. Unsere Wirklichkeit hat vielmehr eine plurale, mehrdimensionale Gestalt, die sich aus der Wechselwirkung Verschiedener ergibt. In ihr erfahren wir unsere Schranken, unsere Nicht-Souveränität.
„In dieser Förderung des wirklichen Geschehens geht allerdings niemand im Gleichschritt, niemand folgt hier einem Fahnenträger nach, alle stehen sich Angesicht gegen Angesicht gegenüber, alle befinden sich im Widerstreit.“
Grisebach 1924
Den Wunsch nach Führung und Gefolgschaft, nach einheitlichen und zeitübergreifenden Kultursystemen sieht Grisebach vor diesem Hintergrund als problematische Flucht aus der menschlichen Wirklichkeit. Sie führt in eine Traumwelt des „schönen Scheins“, in der wir uns der konkreten Verantwortung für den Anderen entziehen. „Wodurch? Durch Beherrschung, durch Vergewaltigung, durch Empörung, durch Brudermord, durch Nichthörenwollen der Ansprüche, durch Überschreien, durch Kampf, wenn es um die Herrschaft über Länder und Meere geht.“

Demgegenüber kann es in den Augen Grisebachs nur darum gehen, ausgehend von dem Wissen um die eigenen Grenzen eine Gemeinschaft im Widerspruch zu schaffen und „trotz der Gegensätze Frieden zu halten“. Auch die Rolle der Philosophie muss in einer solchen Konzeption bescheidener werden. Sie erschließt nicht mehr absolute Werte, die im kulturellen Leben einer Nation zu ihrer schrittweisen Realisierung gelangen. Einen solchen Anspruch versteht Grisebach als Anmaßung eines schrankenlosen Egoismus. „Auch die Philosophie hat nicht die Aufgabe, von dem entscheidenden Prinzip, einem Jenseits zu reden. Sie kann kritisch nur auf den Begriff der Beherrschung und den Begriff des entscheidenden Prinzips Verzicht leisten, also selbst alle Führung und Erziehung abgeben.“
Literatur
Eberhard Grisebach, Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung, Halle 1924.
Bildnachweis
Deckblatt, Hintergrundbild Anhang und Bild 1
- Titel: Porträt Eberhard Grisebach (1880–1945)
- Autor: unbekannt
- Quelle: Universität Zürich: Jahresbericht 1945/46 (1946), Universitätsarchiv Zürich
- bearbeitet von SB
Bild 2
- Titel: Eberhard Grisebach 1917
- Autor: Ernst Ludwig Kirchner
- Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bildnis_Eberhard_Grisebach_von_Ernst_Ludwig_Kirchner_1917.jpg