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Ort: Aula, Universitätshauptgebäude, Fürstengraben 1
Das Universitätshauptgebäude wurde in den Jahren 1905 bis 1908, zur 350-Jahr-Feier der Universität, neu errichtet. Im Zuge der Neuerrichtung und zur Feier des Jubiläums wird das Gebäude mit Gemälden ausgestaltet: u.a. mit Ferdinand Hodlers großformatigen Wandbild: „Auszug der Jenenser Studenten 1813 in den Befreiungskrieg“, das er 1909 fertigstellt hat.
Ferdinand Hodler ist ein Schweizer Künstler, der seinen Durchbruch um die Jahrhundertwende hatte und durch seine Auszeichnung auf der Pariser Weltausstellung einige Bekanntheit erlangte; 1905/6 kam es zu Ausstellungen seiner Werke u.a. in Weimar; Hodler hatte sich inzwischen – unter dem Eindruck seiner ersten Italienreise – großformatigen Wandgemälden zugewendet, und es ist gut möglich, dass es die Weimarer Ausstellung war, die den Verein der „Jenaer Kunstfreunde“ auf Hodler aufmerksam machte.
Den ‚Kunstfreunden’ ist es zu verdanken, dass Jena zum einem Ausstellungsort der modernen Kunst wurde, des Expressionismus beispielsweise, und so bedeutende wie namhafte Künstler anzog wie Ernst Ludwig Kirchner, August Macke oder den heute aufgrund seiner antisemitischen Haltung viel und kontrovers diskutierten Emil Nolde. Vorsitzendes des Vereins waren der Kunsthistoriker Botho Graef und der Kulturphilosoph Eberhard Grisebach. Grisebach war in der Jenaer als Privatdozent nur eine Neben- oder Randfigur. Aber er entwickelte eine gleichsam unzeitgemäße, nämlich sehr moderne, kritische Philosophie. Zu den Mitgliedern des Vereins der Kunstfreunde zählte auch Irene Eucken, die Frau des renommierten Philosophen Rudolf Eucken. Dem Engagement von Irene Eucken ist es zu verdanken, dass der Kunstverein, das Gemälde der Universität für 10.000 Reichsmark zum Geschenk machte.
Angebracht wurde das Gemälde zunächst im Ostflügel des Gebäudes, und zwar so, dass man es, die Treppe hinaufschreitend, allmählich in die Sicht bekam – dies mag zur „erhebenden Wirkung“ der dargestellten Szenerie beigetragen haben.

Was sieht man? Das Bild ist in zwei Hälften unterteilt, deren obere parallele oder serielle Motivführung organisiert ist, während in dem unteren, vorderen Bildbereich Einzelszenen zu sehen sind. Diese stehen in Kontrast und Spannung zur gleichförmigen Bewegung der Vierer-Marschkolonnen. Es ist diese gleichförmige Bewegung – das „Hinausschreiten“, der Auszug – das vielleicht den Haupteindruck des Bildes ausmacht, ohne dass das Bild aber Hinweise auf das „Wohin“, eine zeitliche Kontextualisierung oder gar ein Telos, ein Ziel gibt. Dies war schon vor der „Affäre Hodler“, die fünf Jahre nach dem Einzug des Gemäldes in die Universität ausbrach, scharf kritisiert worden.
Die durch die Serialität im oberen Bildbereich erzeugte Anonymisierung wird vorsichtig oder kontrastiert durch die im unteren, vorderen Bildbereich dargestellten einzelnen Soldaten, die ihre Uniform anlegen oder zu Pferd steigen. Nur eine der Figuren hat den Betrachter*innen das Gesicht zugewandt, aber so, dass der Blick gleichsam ausweicht, sich nach unten und vielleicht zugleich auch nach innen wendet: das ist Walther Eucken, der Sohn des kurz schon erwähnten Rudolf Euckens, der dem Maler Modell gestanden und in seinen Erinnerungen aufgezeichnet hat, dass es in der Jahreszeit, in der Hodler zu Gast war in der Eucken-Villa für einen Studien- und Arbeitsaufenthalt, sehr kalt gewesen ist, die beiden im Freien gearbeitet und sich immer mal wieder durch Boxkämpfe aufgewärmt haben.
Die freundschaftlichen Beziehungen der Euckens zu Hodler, die kulturellen Verbindungen Jenas zur Kunst der Moderne, brechen jäh ab, als sich Ende September/ Anfang Oktober 1914 die Affäre Hodler zusammenbraut. Stein des Anstoßes ist, dass Hodler eine Protestnote gegen die deutsche Kriegsführung in Frankreich und Belgien unterzeichnete, die in einer Genfer Zeitung veröffentlicht wurde, die die Zerstörung der Bibliothek in Leuven und der Kathedrale von Reims verurteilte;. Diese Unterschrift rief heftige, vielfach in Form von offenen Briefen in Zeitungen kundgetane Anfeindungen hervor: denn es sei Hodler dem deutschen Volk in den Rücken gefallen dadurch, dass er eine öffentliche Protestnote unterzeichnete, die die deutsche Kriegsführung als „barbarisch“ verurteilte; was mit dem Selbstverständnis (auch) geistiger Kriegsführung; und dies ging mit dem Selbstverständnis und der Deutung des Krieges als gerade nicht unmoralisch, sondern ganz im Gegenteil als erhebend und von sittlichen Wert ganz und gar nicht zusammen.
Hodler galt von nun an als „Deutschfeind“, und von vielerlei Seiten wurde nachträglich bezweifelt, warum man überhaupt ein solch erhebendes, nationales Ereignis von einem Schweizer hätte malen lassen, der es (so die v.a. unter den Gelehrten verbreitete Auffassung: qua Nationalität) weder recht zu empfinden noch auszudrücken wisse; und man glaubte nun, auch schon in der Farbgebung, in der verkrümmten, verrenkten Haltung der Soldaten nur „Undeutsches“ erkennen zu können.
Kurz nachdem die Affäre ausgebrochen war, schritt der berühmte Jenaer Zoologe Ernst Haeckel zur Tat. Haeckel diktierte einen offenen Brief, gerichtet an Hodler im „Jenaer Volksblatt“, der in vielen dt. Zeitungsblättern nachgedruckt wurde, verbunden mit Aufruf, das Bild meistbietend zu versteigern und den Erlös dem Roten Kreuz zu spenden. Es fanden sich tatsächlich Interessente, die bis zu 50.000 zu zahlen bereit waren, doch der Senat der Universität entscheidet sich aus strategischen Gründen gegen einen Verkauf: dieser würde, insbesondere im Ausland und aufgrund der Bekanntheit Hodlers nicht nur in den Künstlerkreisen, für noch mehr Aufsehen sorgen und die Stadt, aber auch die „Deutschen“ insgesamt in ein schlechtes Licht rücken. So wurde argumentiert, das Bild könne als Privatbesitz der Universität nicht versteigert werden und beschlossen, es vorerst in „Schutzhaft“ zu nehmen, d.h. es mit einem Bretterverschlag zu verdecken, an dem der Leiter des geographischen Instituts, Professor v. Zahn, Kriegsschauplatz- und Verlaufskarten und Feldpostbriefe „unserer Kommilitonen“ anbrachte und vor diesen seine Vorlesungen hielt.
Hodler nimmt in einem Telegramm an Eucken zu seiner Unterschrift und der Affäre Stellung und schreibt, er habe nicht gegen Deutschland, sondern gegen die Zerstörung von Kunstwerken protestiert; sein Protest sei daher nicht politisch, sondern kulturell motiviert. Seine Haltung ist aber auch als Künstler politisch, wie an Kommentaren zum „Fall“ deutlich wird, die er gegenüber dem Freund und Unterstützer Eberhards Grisebachs während eines Treffens 1915 in der Schweiz äußert: denn wer Kunstwerke zerstöre, der trenne auch die Völker.
Im Frühjahr 1919 wird das Gemälde von Studenten während einer Tagung ‚befreit’. Von einer disziplinarischen Verfolgung der Beteiligten sieht die Universitätsleitung erst nach einer Intervention des Arbeiter- und Soldatenrates ab.