Ort: Grietgasse 11, Mathilde-Vaerting Straße

Von 1921–23/24 regiert in Thüringen eine linksozialdemokratische Reformregierung von SPD und USPD (später VSPD) unter Tolerierung und später auch Beteiligung der KPD. Ein zentrales Betätigungsfeld der neuen Landesregierung ist die Bildungspolitik. So plant Volksbildungsminister Max Greil die Neuregelung des Schul- und Bildungswesens vom Kindergarten bis zur Universität.
Greil will die Trennung zwischen höheren Schulen und Volksschulen aufheben. Stattdessen ist eine einheitliche Volksschule mit anschließender Oberstufe geplant. Dementsprechend soll auch die Lehrerbildung reformiert werden. Sein Reformplan von 1922 sieht vor, dass auch Volksschullehrer ein mindestens zweijähriges Universitätsstudium mit pädagogischer Ausbildung zu absolvieren haben. Für ihn ist für Bildungshöhe eines Volkes ist nicht nur das Niveau einer kleinen Elite, sondern Qualität der Volksschule entscheidend.
Dieses Vorhaben stößt auf den Widerstand der etablierten Bildungseliten und führt zu einem republikweit für Aufmerksamkeit sorgenden Hegemoniekonflikt. Viele Professoren sehen durch die Vorhaben Greils ihre Privilegien und Bildungsvorstellungen gefährdet. Aus ihrer Sicht dienen die Universitäten der Pflege der Wissenschaft und sind nicht für die Ausbildung von Volksschullehrern zuständig.
So schreibt der bekannte Philosoph Rudolf Eucken in seinen Lebenserinnerungen von 1922: „Nun aber ist das Problem in vollen Fluß geraten; immer stürmischer erhebt sich die Forderung einer vollen Gleichheit der Menschen (…). Dieser Wendung widersteht aber die Tatsache, daß nicht nur die Natur die Menschen verschieden ausstattet, sondern daß auch die Kultur zu ihrer Entwicklung deutlicher Abstände bedarf und eine Zerlegung des Zusammenlebens in eine höhere und eine niedere Schicht verlangt (…).“ Eine eigene ältere Schrift zitierend fährt er fort: „Wenn die Sozialkultur nach möglichster Gleichheit strebt, so ist gewiß die Absicht der Besten, das Gesamtniveau zu heben, möglichst viele möglichst alle auf die Höhe zu führen, ohne diese irgendwie zu verringern. Aber die Natur ist hier stärker als die Absicht des Menschen. Unvermerkt wird der Stand des Aufnehmenden zum Maß der geistigen Bewegung und es sinkt damit unvermeidlich die Höhe des Ganzen (…).“
Zu den Professoren, die der Greilschen Reformpolitik feindlich gegenüberstanden, gehörten auch die Philosophen Max Wundt und Bruno Bauch. Insbesondere Wundt gehört zu den aktivsten Professoren während des Hochschulkonflikts.
Greil plant den Aufbau einer eigenständigen pädagogischen Abteilung und schreibt neue Lehrstühle und Lehraufträge für Pädagogik aus. Zum offenen Streit mit der Hochschule kommt es bei Besetzung der neu geschaffenen pädagogischen Lehrstellen.
Die von der Fakultät vorgelegten Berufungslisten enthalten Bewerber mit mangelnder pädagogischer Qualifikation und offene Gegner der Hochschulreform und der Einführung der Lehrerbildung an den Universitäten. Greil lehnt die Listen ab und beruft stattdessen unter anderem Peter Petersen, Wilhelm Peters, Mathilde Vaerting und Anna Siemsen. Greil geht es mit diesen Berufungen auch darum, ein Gegengewicht zu den bestehenden reaktionären Positionen an der Universität zu schaffen.
Die Fakultät akzeptiert allerdings nur den Eucken-Schüler Petersen. Sie versteht das Vorgehen Greils als Eingriff in die universitäre Selbstverwaltung, schaltet den Hochschulverband ein und beklagt in Presseartikeln „diktatorische Maßnahmen“ und „Terror gegen die Landesuniversität“. Auch beschließt der Senat, der neu gegründeten Erziehungswissenschaftlichen Abteilung die Anerkennung zu versagen. Greil kann allerdings die von ihm angestrebten Berufungen durchsetzen.
Anna Siemsen hatte etwa während des Weltkrieges pazifistische und explizit gegen Schelers Kriegsschriften und die „Ideen von 1914“ gerichtete Auffassungen vertreten. Zudem war sie Mitglied des „Bundes neues Vaterland“, der u.a. Antikriegskundgebungen organisierte. 1922 war sie der USPD, später der SPD beigetreten, mit der sie sich allerdings 1931 wegen der Unterstützung neuer Rüstungsausgaben durch die Partei überwerfen sollte. 1923 wird sie von Greil zur Honorarprofessorin in der neuen pädagogischen Abteilung berufen.
Zum 1. Oktober 1923 wird auch Mathilde Vaerting als Professorin für Erziehungswissenschaften berufen. Sie ist damit eine der ersten Professorinnen in Deutschland. Sie galt als eine wichtige Protagonistin der bürgerlichen Frauenbewegung und hatte in ihren erziehungswissenschaftlichen Schriften Ansichten entwickelt, die für einen großen Teil der Jenaer Professorenschaft schlicht skandalös waren: so hatte sie scheinbar natürliche Charaktereigenschaften und auch körperliche Merkmale von Männern und Frauen auf deren soziale Position zurückgeführt. Sie versucht so, geschlechtsspezifische Merkmale auf Herrschaftsverhältnisse zurückzuführen. Wie Siemsen blieb Vaerting während ihrer Zeit in Jena von vielen ihrer Kollegen angefeindet. So hatte der Haeckel-Nachfolger Ludwig Plate u.a. 1929 die gegen sie gerichtete Schmähschrift „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ veröffentlicht. Hier hatte er ihr mangelnde wissenschaftliche Eignung und unmoralische Ansichten vorgeworfen (etwa die, dass Frauen eher zur Polygamie neigen als Männer) und damit geschlossen, dass das Beispiel Vaertings zeige, dass die feministische Bewegung durch einen fanatischen Männerhass getrieben sei.
Die Abwehrhaltung der Universität und insbesondere der philosophischen Ordinarien gegen die Greilschen Reformmaßnahmen hat also verschiedene Dimensionen: sie richtet sich gegen die weitere Ausdifferenzierung der Fächer und ist als Versuch zu verstehen, die klassische Stellung der Philosophie als „Königin der Wissenschaften“ zu wahren. Zugleich richtet sie sich gegen die bildungspolitischen Gleichheitsvorstellungen des linken USPD-Ministers. Und sie ist auch ein Kampf darum, auch den politischen Status Quo innerhalb des Lehrkörpers zu wahren.
Diese Abwehrhaltung ist in verschiedenen Hinsichten erfolgreich. Die 1924 gewählte Ordnungsbund-Regierung löst die pädagogische Abteilung auf, Siemsen wird 1932 unter der Regierung Sauckel, Vaerting, Peters und Schaxel werden 1933 entlassen. Die Universitätsleitung schweigt dazu.