Ort: Eucken-Villa, Botzstraße 5

Der Fall Hodler steht für den Versuch, die Frontstellungen des ersten Weltkrieges in entsprechende kulturelle Trennungen zu übersetzen. Auch bedeutende zeitgenössische Intellektuelle, insbesondere Philosophen, beteiligen sich an diesem Diskurs. Sie sehen sich selbst als „geistige Führer“ der Nation. Für sie ist es eine Gelegenheit, die von ihnen beklagte Trennung zwischen dem „Geist“ und dem öffentlichen Leben zu überwinden. Indem sie die Frage nach dem Sinn des Krieges beantworten, können sie die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Wissenschaft unter Beweis stellen. Der Philosoph Rudolf Eucken etwas schreibt: „Die Sache der geistigen Führer, der sogenannten Intellektuellen, war es, den Mut zu stärken und für das gute Recht Deutschlands einzutreten.“
Dabei versuchen sie, dem deutschen Reich eine sittliche Mission zur Verwirklichung des Guten zuzuschreiben. Sie rufen den Einzelnen zur Aufopferung für die nationale Gemeinschaft auf. So entwickeln sie eine philosophische Rechtfertigung der deutschen Kriegsführung.
Rudolf Eucken, geboren 1846 in Aurich, Ostfriesland, war schon 1874 an die Universität Jena berufen worden und gehörte den prominenten und öffentlich wirksamen Intellektuellen seiner Zeit. 1908 hatte er den Nobelpreis für Literatur erhalten, später wurde der sogenannte Eucken-Bund für die Verbreitung seiner Lehre gegründet.
Im ersten Kriegsjahr hält Rudolf Eucken insgesamt über sechsunddreißig Reden. Im August 1914 spricht er in der Aula der Universität Jena. Er räumt zwar ein, dass es schlechte Kriege gibt. Als Verfechtung einer gerechten Sache aber bewirkt er eine innere Läuterung. Gerade das lässt sich gegenwärtig in Deutschland beobachten: „Jeder beeilt sich, sein bestes Opfer zu bringen, das schwerste wird dabei selbstverständlich.“ So ermöglicht der Krieg die Überwindung die Überwindung des Egoismus. Damit können die Einzelnen auch das ihnen Gemeinsame erkennen: „Gefahren, Nöte, Erfolge, sie sind hier gemeinsame Erlebnisse, so empfindet jeder unmittelbar, mit dem anderen, so versteht er ihn unmittelbar, alle harte Kruste des Eigendünkels und der Absonderung ist jetzt aufgelöst, in großen Wogen geht dasselbe Gefühl, dasselbe Leben durch das ganze Volk, alle Unterschiede des Standes, auch alle Gegensätze der Parteien verschwinden.“
Nicht nur die innere Läuterung erweist nach Eucken die Gerechtigkeit des deutschen Krieges. Sie zeigt sich ebenso darin, dass die Deutschen für ein gerechtes Ziel streiten. Entwickelt wird dieser Gedanke in der ebenfalls 1914 gehaltenen Rede: „Die Weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes.“
Eucken wendet sich hier gegen die „verleumderische Trennung“ zwischen dem Deutschland der Dichter und Denker auf der einen und der Industriekultur der Gegenwart auf der anderen Seite. Demgegenüber soll die Besinnung auf das eigene Wesen erfolgen und die Einheit beider Bestimmungen herausgearbeitet werden.
Die Deutschen seien, so Eucken, ein Volk „tiefster Innerlichkeit“. Sie sind aus innerer Notwendigkeit heraus tätig. „Dies Sichstellen auf sein Gewissen und seine Persönlichkeit, wenn es sein muß, gegen die ganze Welt, das ist echt deutsch.“ Genau diese deutsche Innerlichkeit ermöglicht erst die äußere Beherrschung der Welt und damit die großen industriellen Leistungen der Gegenwart. Weil Arbeit hier als innere Bestimmung und Berufung verstanden wird, entstehen Eigenschaften, wie Fleiß, Genauigkeit, Pflichtgefühl etc. Aus der Spannung beider Bestimmungen – innere Bestimmung und Pflicht und äußere Beherrschung – erwächst demnach die deutsche Größe: Sie führt zur Gestaltung der Welt aus innerer Bindung an ewige Ideale.
Diesen Gedanken verfolgt Eucken über die Mystik Meister Eckharts, über Luther bis zum deutschen Idealismus. Auf der Grundlage dieser Ideen wären den Deutschen Leistungen möglich gewesen, von denen die Zukunft der Menschheit abhänge. So kann er schlussfolgern, dass die Deutschen „die Seele der Menschheit bilden und daß die Vernichtung der deutschen Art die Weltgeschichte ihres tiefsten Sinnes berauben würde.“
Diese Überlegungen Euckens waren überaus prägend. Sie trugen zum einen dazu bei, das bis heute wirkmächtige Bild einer umfassenden, alle Standesgrenzen überwindenden nationalen Einheit und Kriegsbegeisterung aus den Augusttagen 1914 zu erzeugen und zu kolportieren. Rechte Gruppen werden sich später in ihrer Agitation gegen die Weimarer Republik auf die nationale Erhebung der „Ideen von 1914“ beziehen. Auch die NSDAP wird sich später hieran anknüpfen.
Zum anderen werden die hier entwickelten Narrative auch einflussreich für die weitere Ausrichtung der Jenaer Philosophie. Bruno Bauch wird in seinen Reden zur Reichsgründungsfeier am 18.01.1926 an die von Eucken beschworene Einheit des deutschen Geistes anknüpfen und Max Wundt wird für die von ihm vorgenommene Rückbesinnung auf das „deutsche Wesen“ an die von Eucken konstruierte Entwicklungslinie von Meister Eckhardt, die Reformation, den deutschen Idealismus bis zum Neuhegelianismus der eigenen Gegenwart anschließen.
Eucken argumentiert aber bedeutend vorsichtiger als seine Nachfolger: er widersetzt sich annexionistischen Forderungen und spricht sich gegen die Herabwürdigung der Kulturleistungen anderer Nationen aus.
Allerdings tritt er 1917 der DVP bei. Als der Reichstag im Juli 1917 eine Resolution annimmt, in der die Beendigung des Weltkrieges und das Bemühen um einen Verständigungsfrieden gefordert wird, protestiert Eucken dagegen mit anderen Unterzeichnern in der „Hallenser Resolution“. Über die deutsche Niederlage schreibt er in seinen Lebenserinnerungen: „Das war wohl der traurigste Augenblick der ganzen deutschen Geschichte, als ein Teil des deutschen Volkes sich selbst untreu wurde und alles Gefühl für Scham und Ehre ablegte.“