von: Sebastian Bandelin, im Februar 2020
Nachdem sich Thomas Kemmerich am 05. Februar mit den Stimmen der FDP, der Union und der AFD für kurze Zeit zum Ministerpräsidenten in Thüringen wählen ließ, wurde die Situation in Thüringen vielfach mit den 20er und 30er Jahren der Weimarer Republik verglichen. Gerhart Baum, ehemaliger FDP-Innenminister unter Schmidt und Teil des linksliberalen Flügels in seiner Partei, meinte noch am gleichen Tag in einem Interview in Deutschlandfunk, ein „Hauch von Weimar“ liege über der Republik. Auch auf der unmittelbar nach der Vereidigung Kemmerichs einberufenen Protestkundgebung vor dem Landtag in Erfurt waren Schilder zu lesen, auf denen das Jahr 2020 mit 1930 gleichgesetzt wurde.
Warum 1930? Nach den vorgezogenen Landtagswahlen im Dezember 1929 konnte die NSDAP in Thüringen ihren Stimmenanteil auf 11% steigern und insgesamt 6 von 53 Mandaten erringen. Hitler verfolgt das Ziel, ein erneutes Verbot seiner Partei zu verhindern, Thüringen zu einem Musterland der NS-Politik auszubauen und reichsweit die Regierungsfähigkeit der NSDAP unter Beweis zu stellen. Am 10. Januar reist er nach Weimar, um im Hotel „Augusta“ vor Vertretern von bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbänden Vorbehalte gegen den Regierungseintritt seiner Partei zu überwinden. Und das mit Erfolg: Noch im Januar tritt die NSDAP unter dem Landbund-Politiker Erwin Baum und unter Beteiligung der DVP, der DNVP und der Wirtschaftspartei erstmals in eine Landesregierung, die sogenannte „Thüringen-Koalition“ ein. Zudem war es gelungen, den Vorsitzenden der NSDAP-Reichstagsfraktion Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister durchzusetzen. Für Hitler sind das die entscheidenden Ressorts. In einem Brief an einen Anhänger schreibt er: „Wir werden in Thüringen nunmehr das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalsozialisten stellen. Wir werden ebenso sehr den Lehrkörper von den marxistisch-demokratischen Erscheinungen säubern wie umgekehrt den Lehrplan unseren nationalsozialistischen Tendenzen und Gedanken anpassen. Der erste Schritt wird die Errichtung eines Lehrstuhls für Rassenfragen und Rassenkunde an der Universität Jena sein.“
Auch wenn die NSDAP hier zunächst nur Juniorpartner ist und zudem noch auf den Rahmen der Landespolitik eingeschränkt bleibt, weiß sie den damit gewonnen Einfluss auf Polizei, Schulen und Hochschulen in der Folge zu nutzen: Mit der Billigung seiner Koalitionspartner ordnet Frick die Einführung von „Deutschen Schulgebeten“ an, entlässt 29 demokratisch-republikanische Lehrkräfte, verbietet Landes- und Kommunalbeamten die Mitgliedschaft in der KPD, sorgt für ein Verbot des Schulgebrauchs des Buches „Im Westen nichts Neues“ und besetzt hohe Polizeiränge durch überzeugte Nationalsozialisten. Zudem beruft er 1930 den NS-„Rassentheoretiker“ Hans Günther auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Sozialanthropologie an die Landesuniversität Jena. Der Günther-Verleger Lehmann hatte später die These vertreten, dass mit der Berufung Günthers die „Rassenkunde“ universitätsfähig geworden sei. Auch der spätere Rektor der Universität Karl Astel schreibt 1941, damals hätte die Entwicklung der Friedrich-Schiller-Universität zur „ersten rassen- und lebensgesetzlich ausgerichteten Hochschule Großdeutschlands begonnen.“ Insgesamt kann Thüringen damit als ein erster Versuch des Umbaus des Staatsapparates und der Bildungspolitik nach NS-Vorstellungen verstanden werden. 1932 sollte die NSDAP in Thüringen zur stärksten Kraft werden.
Deutlich wird dabei aber auch, dass der Vergleich mit dem Jahr 1930 schnell an seine Grenzen gerät: Schließlich war Kemmerich, auch wenn er sich von der AFD hatte wählen lassen, nicht bereit, offen und langfristig mit der Partei zusammenzuarbeiten.
Es lässt sich aber fragen, warum 1930 eine Regierungsbeteiligung der NSDAP in Thüringen möglich war; warum sie hier über hinreichend Einfluss und Legitimität verfügte, um in die Regierung berufen zu werden.
Diese Frage führt zurück in das Jahr 1924. 1924 wurde eine dreijährige Phase linkssozialdemokratischer Reformregierungen in Thüringen beendet. Von 1921–23 regiert in Thüringen ein Bündnis von MSPD und USPD unter Tolerierung der KPD. Unter dem Ministerpräsidenten August Fröhlich (MSPD) werden vorsichtige Reformprojekte, wie eine Vereinheitlichung und Demokratisierung der Landesverwaltung, eine Gebietsreform, sowie eine progressive Bildungs- und Sozialpolitik angestoßen. So setzt sich sein Volksbildungsminister Greil (USPD) für die Bildung einer Einheitsschule und die Abschaffung des Schulgeldes ein. Als die KPD im Herbst 1923 offiziell an der Regierung beteiligt wird und eigene Minister stellt, marschiert die Reichswehr Anfang November in Thüringen ein und entmachtet die rot-rot-rote Landesregierung.
Für die Neuwahlen Anfang 1924 gründet sich mit dem „Thüringer Ordnungsbund“ ein neues politisches Bündnis, in dem sich DVP, DNVP, Landbund und die DDP, also auch die damalige liberale Partei, zusammenschließen. Dieses Bündnis konservativ-nationalistischer und liberaler Kräften verfolgt ein zentrales Ziel: rot-rot-rot abzuwählen und eine erneute Regierungsbeteiligung sozialdemokratisch-kommunistischer Kräfte zu verhindern. In einem extrem polarisierten Wahlkampf mobilisieren sie gegen eine vermeintliche „marxistische Zwingherrschaft“.
Dieser Wahlkampf verläuft zwar insofern erfolgreich, als der Ordnungsbund mit 48% die meisten Stimmen erhält; er verfehlt damit aber zugleich die absolute Mehrheit. Um ihr zentrales Wahlziel, die Abwahl von Rot-rot-rot, einzulösen, entscheidet sich der Ordnungsbund dafür, sich durch die „Vereinigte Völkische Liste“ bzw. den „Völkisch-sozialen Block“ (VSB) tolerieren zu lassen.
Der VSB, der bei den Wahlen 9,3% erreicht hatte, war ein Zusammenschluss radikal-völkischer Kräfte, in dem u.a. Mitglieder damals verbotene NSDAP und der „Völkische Freiheitspartei“ zusammengefunden hatten. Der Fraktionsvorsitzende der VSB, der völkische Autor Arthur Dinter sollte später zum Vorsitzenden der NSDAP in Thüringen werden.
Die offene Regierungsbeteiligung der Völkischen ist 1924 zwar noch nicht durchsetzbar. Die Morde der Freikorps an Arbeiter*innen nach dem Kapp-Putsch sind in Thüringen noch in unguter Erinnerung, der Hitler-Putsch in München liegt erst wenige Monate zurück und nach antisemitisch motivierten Mord an Walther Rathenau im Juni 1922 durch die rechtsextreme Terrororganisation Consul waren eine Vielzahl völkischer Vereinigungen und Parteien verboten worden. Die national-konservativen und liberalen Kräfte wollen jedoch um jeden Preis eine neue rot-rote Regierung verhindern. Dafür sind sie bereit, eine Unterstützung durch die Völkischen in Kauf zu nehmen.
Das sollte sich rächen. Dinter setzt sich für den Ausschluss von Juden aus Regierungs- und Beamtenstellen ein; er erwirkt die Absetzung des jüdischen Staatsbankpräsidenten Walter Loeb sowie Aufhebung des Verbots der NSDAP und anderer völkischer Gruppierungen. Thüringen wird damit zu einem wichtigen Zentrum für völkische Netzwerke. Diese errichten hier Schulungszentren, wie die Heimvolkschule in Bad Berka, sowie Wehrbünde wie den Jungdeutschen Orden. Schon im August stellen die reaktionären Kräfte ihr neues Selbstbewusstsein zur Schau: Auf der Großkundgebung der „Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschland“ versammeln sich in Weimar über 15.000 Menschen. Auch für den Neuaufbau der NSDAP erhält Thüringen so eine entscheidende Bedeutung. Hitler hält hier nach seiner Haftentlassung seine ersten öffentlichen Reden, und 1926 findet in Weimar der erste Reichsparteitag der NSDAP nach ihrer Wiedergründung statt. Es sind diese Entwicklungen, die 1930 in die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP münden sollten.
So weit ist es im Jahre 2020 nicht gekommen und die Amtszeit Kemmerichs währte nur wenige Tage. Nach seinem Rücktritt und der Forderung nach Neuwahlen auch durch die FDP scheint die Sache ausgestanden zu sein. Aber das ist sie nicht, und das nicht nur wegen des prinzipiellen Glaubwürdigkeitsverlusts von Union und FDP. Denn die Flügelkämpfe innerhalb beider Parteien dauern an und werden mit dem Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer weiter an Fahrt aufnehmen. Während die Werte-Union die Position vertritt, der eigentliche Sündenfall der Demokratie sei die Wahl Ramelows vor vier Jahren gewesen und eine Minderheitsregierung unter Kemmerich mit Experten in den Ministerien und „sachorientierter Zusammenarbeit“ mit verschiedenen Fraktionen seien Neuwahlen vorzuziehen, fordern andere Unionspolitiker, über einen Ausschluss der Werte-Union aus der Partei nachzudenken. Wie dieses interne Kräftemessen ausgeht, ist noch offen. Und angenommen, es kommt zu Neuwahlen. Was wäre denn, wenn die FDP gestärkt aus dieser Wahl hervorgeht? Und wäre das ausgeschlossen? Hat sie sich nicht sehr bewusst als Mittler zwischen AFD und Union platziert? Und zielt sie damit nicht direkt auf die 25% des rechtsorientierten Wählerpotentials in Thüringen? Und was, wenn diese Rechnung aufgeht? Wäre es dann wirklich zu erwarten, dass bei den nächsten Wahlen, z.B. in Sachsen-Anhalt, Parteichef Linder wieder anreist, um seine Landesverbände zu Räson zu bringen?
Das sind offene Fragen, die zeigen, dass wir uns nicht auf das verlassen können, was in den Parlamenten passiert, sondern dass es entscheidend sein wird, welcher Druck in den kommenden Tagen und Wochen auf der Straße und von Verbänden, Kirchen, Vereinen, Universitäten, Gewerkschaften etc. ausgeübt werden wird.
Dazumal bezahlt insbesondere die DDP einen hohen Preis für ihre Tolerierungspolitik gegenüber den Völkischen. Der Ministerkandidat der DDP Arnold Paulsen ist für den VSB nicht akzeptabel, weil er Jahre zuvor, von 1920–21, mit den Sozialdemokraten koaliert hatte. Als Bedingung für seine Unterstützung fordert der VSB, nur „deutschblütige, nichtmarxistische Männer“ in die Regierung zu berufen. Die DDP verlässt den Ordnungsbund. Die Liberalen waren zwar bereit, den Faschisten landespolitisch zu Macht zu verhelfen; sie werden jedoch von diesen umgehend in die Opposition gezwungen. Danach verschwinden sie in der politischen Bedeutungslosigkeit, von der sie sich – letztlich bis 1990 – nicht mehr erholen sollten.